Schlosskirche Wittenberg

DerBaum > #kirchensafari > Kirchen Deutschlandweit > Schlosskirche Wittenberg



Es war ein kühler Karfreitagmorgen, grau und windstill. Über der Altstadt von Wittenberg hing ein dünner Schleier aus Nebel, der die Spitzen der Türme umfloss und den Marktplatz in ein mattes, fast silbernes Licht tauchte. Der Frühling zögerte noch; die kahlen Äste der Linden am Schlossplatz wirkten wie mit Bleistift gezeichnet. Ich kam vom Lutherhaus her, über das Pflaster, das dumpf unter den Schuhen hallte, und folgte der sanften Steigung bis hinauf zur Schlosskirche.

Die Westfassade stand still und monumental da – spätgotisch, kühl und von jahrhundertelangem Wind geglättet. Über dem Portal prangt in großen Lettern das Wort, das seit Jahrhunderten Trost und Trotz zugleich verkündet: „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Darunter die bronzenen Thesentüren, dunkelgrün oxidiert, von Regen und Jahreszeiten gezeichnet, und doch unübersehbar das Herz der Weltgeschichte. Kein Tourist drängte sich davor, keine Schülergruppe mit Reiseführer. Nur eine Handvoll Menschen, still, jeder mit seinen eigenen Gedanken.

Ich legte die Hand auf das kalte Metall. Die 95 Thesen, in lateinischer Sprache, sorgsam in die Tafeln gegossen, spiegelten matt das fahle Licht. Hier also der symbolische Anfang jener Bewegung, die Europa erschütterte. Und doch: kein Triumph, keine Pose. Nur der stille Mut eines Mönchs, der die Wahrheit über die Furcht stellte. Ein Karfreitag in Stein und Metall.

Drinnen umfing mich der Raum mit einer unerwarteten Weite. Die Schlosskirche ist eine Hallenkirche, spätgotisch in ihrer Sprache, und dennoch leicht in ihrer Wirkung. Das Netzgewölbe spannt sich hoch und gleichmäßig, seine Rippen zeichnen feine Muster über das helle Gewölbe. Das Licht, gefiltert durch die farbigen Fenster aus dem 19. Jahrhundert, legte sich in stillen Farben über den Steinboden. Keine Sonne, aber ein gleichmäßiges Grau, das die Figuren und Altäre milde erscheinen ließ.

Im Chorraum, wo einst die Kurfürsten und Theologen predigten, ruht Martin Luther. Eine einfache Grabplatte aus dunklem Stein, darauf nur Name, Todesjahr und der schlichte Satz: „Hier ruht Dr. Martin Luther, der das Evangelium des Herrn Jesu Christi in dieser Kirche verteidigte.“ Daneben Philipp Melanchthon, der Freund und Mitstreiter. Zwei Namen, zwei Lebensläufe, die das Antlitz Europas verändert haben – und doch so bescheiden, so unprätentiös beigesetzt, wie es dem Geist der Reformation entspricht.

Hinter den Gräbern zieht sich entlang der Wände das Chorgestühl – ein Werk, das leicht übersehen werden könnte, so selbstverständlich fügt es sich in die gotische Architektur. Und doch gehört es zu den feinsinnigsten Schnitzarbeiten, die Wittenberg besitzt. Seine ältesten Teile stammen noch aus der Bauzeit um 1510; sie wurden vermutlich von Werkstätten aus der Umgebung von Torgau und Freiberg gefertigt. Der Brand von 1760 zerstörte zwar große Teile der Ausstattung, doch einige originale Wangen, Miserikordien und Zierbretter blieben erhalten und wurden im 19. Jahrhundert behutsam ergänzt.

Die Formensprache ist typisch spätgotisch – Maßwerkbänder, Weinlaub, Knospen, figürliche Konsolen. In den seitlichen Endstücken finden sich feine Reliefs mit Propheten und Aposteln, die – fast reformatorisch vorweggenommen – nicht als ferne Heilige, sondern als nachdenkliche Menschen dargestellt sind. Ihre Gesichter tragen Spuren von Müdigkeit, von Ernst. Manche halten Schriftbänder, andere Bücher oder Kelche – Sinnbilder der Verkündigung.

Über den Sitzen ziehen sich kleine Baldachine mit Krabben und Fialen, deren fein geschnitzte Linien sich gegen das schlichte Mauerwerk abheben. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man in den Miserikordien kleine, fast humorvolle Szenen: ein Mönch, der einschläft; ein Löwe, der eine Schriftrolle bewacht. Sie stammen wohl noch aus der vorreformatorischen Zeit – Zeugnisse eines kirchlichen Alltags, in dem die Menschen lachten, zweifelten, lebten.

In der Sächsischen Kirchengalerie wird das Gestühl kurz, aber treffend beschrieben:

„Ein schönes Werk der späten Gotik, in welchem Zucht und Phantasie versöhnt erscheinen; der ernste Zug der Wittenberger Kirche findet hier seine zierlichste Entsprechung.“

Wie wahr: Es ist kein Prunkmöbel, sondern ein hölzernes Gebet. Und wer am Karfreitag davor steht, mag die feinen Linien der Schnitzerei beinahe als stilles Echo auf das Leiden Christi lesen – Schmerz, Geduld und Hoffnung zugleich.

Unweit davon erhebt sich die Kanzel – ebenfalls ein Werk jener Zeit, geschnitzt aus Eiche nach Entwürfen Friedrich Adlers. Auf ihrem achteckigen Korb sind die vier Evangelisten in Reliefs dargestellt, darunter die Wappen jener Städte, die mit Luthers Leben und Wirken verbunden sind – Wittenberg, Eisleben, Worms. Der hohe, reich bekrönte Schalldeckel lenkt das Wort gleichsam himmelwärts. Hier verdichtet sich, was dieser Ort bedeutet: Verkündigung, Erinnerung, Erneuerung – in Holz gefasst und doch ganz dem Klang des Wortes gewidmet.



~~~

Ein älteres Paar saß still in einer der vorderen Bänke. Kein Gespräch, kein Flüstern – nur das Rascheln eines Mantels. Von der Orgelempore her drang leise Musik, eine schmale Melodie, vielleicht Bach, vielleicht Mendelssohn, kaum mehr als ein Atemzug. Der Klang schwebte durch den Raum wie eine Erinnerung. Karfreitag – der Tag der Stille, der Spannung zwischen Ende und Anfang.

Ich setzte mich ebenfalls, ohne Ziel, nur um zu bleiben. Durch die offenen Türen des Chorraums wehte ein kühler Luftzug. Ich stellte mir vor, wie es hier war, als 1517 der junge Professor Luther seine Thesen an das Tor sandte. Kein Donner, kein Blitz, nur das Papier, die Feder, der Gedanke. Der Karfreitag der Kirche begann lange vor dem Karfreitag des Jahres 1517, und er dauert bis heute: der Kampf zwischen Macht und Gewissen, zwischen Dogma und Glauben.

Über den Pfeilern des Langhauses ziehen sich feine Inschriften und Wappen – Reste jener Zeit, als die Kirche noch zugleich Hofkapelle und Universitätstempel war. In der Sächsischen Kirchengalerie heißt es:

„Die Schlosskirche zu Wittenberg ist in ihrer ernsten, doch lichten Gestalt ein Abbild des Geistes, der aus Glauben Erkenntnis formt; sie erhebt, ohne zu prunken, sie mahnt, ohne zu drohen.“

Diese Beobachtung fasst zusammen, was der Raum in seiner kühlen Schönheit ausstrahlt: keine Drohung, keine Predigt, sondern ein stilles Gleichgewicht von Verstand und Andacht.

An den Seitenwänden leuchten die Glasfenster, erst im 19. Jahrhundert eingesetzt, mit Szenen aus dem Leben Luthers: der Thesenanschlag, das Gespräch auf der Wartburg, der Reformator am Schreibtisch. Sie wirken beinahe zu farbig in dieser kargen Architektur – ein Versuch, das Geschehene zu illustrieren, wo es doch in Wahrheit im Unsichtbaren geschieht: im Zweifel, im Glauben, im Wort.

Ich ging langsam den Mittelgang entlang, die Schritte hallten leise. Der Altar von Friedrich August Stüler, klassizistisch in seiner Klarheit, lenkt den Blick nach vorn – keine prunkvolle Tafel, sondern eine Predigt in Marmor. Über allem das Kreuz, schlicht und unvergoldet, an diesem Tag das Zentrum der Welt.

Draußen zogen inzwischen dunklere Wolken auf, und durch das hohe Westfenster fiel ein fahles Licht auf den Steinboden, so, als legte sich ein Schatten über die Zeit. Die Mauern der Schlosskirche haben Feuer, Krieg und Wiederaufbau erlebt. 1760 im Siebenjährigen Krieg brannte das Dach, die alten Türen wurden vernichtet. Und doch steht sie, unerschütterlich, wie das Wort an ihrem Portal. Vielleicht ist es diese Mischung aus Verwundbarkeit und Beständigkeit, die sie so menschlich macht.

Ich trat wieder hinaus auf den Schlosshof. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Stadt lag still. Keine Glocken, kein Lärm – nur das ferne Rauschen der Elbe, gedämpft vom Wind. Selbst die Tauben hielten inne. Der Karfreitag bringt seine eigene Art von Schweigen mit – kein leeres, sondern ein gespanntes, erwartungsvolles.

Ich drehte mich noch einmal um: Der Turm, mit seiner neogotischen Haube, schien den Himmel zu tasten, als wolle er zwischen Erde und Ewigkeit vermitteln.

In einem Brief an seinen Freund Jonas hatte Luther einst geschrieben:

„Ich bin des Lebens müde, und mein Wunsch ist, zu ruhen bei denen, die mich verstanden haben. Wittenberg ist mir Grab und Heimat zugleich.“

Diese Worte klingen in der Stille des Karfreitags nach – als wüsste der Reformator, dass sein Werk nicht mit ihm endete, sondern hier, zwischen Stein und Schweigen, weiter atmet.

Ich blieb noch eine Weile auf dem Platz stehen, sah den Dunst sich über den Elbwiesen senken und die Konturen der Stadt verblassen. Hinter mir blieb die Schlosskirche, grau und still im diffusen Licht, wie ein Atemzug der Geschichte – kühl, schwer und zugleich tröstlich in ihrer unerschütterlichen Ruhe. (in Zusammenarbeit mit herrn clarus – dem lieblingsbot)


Bild : Herr Clarus



~~~


Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.
Sprüche 16,18



~~~

zurück zur startseite



~~~